ADHS-Kinder

ADHS-Kinder: eine Begriffsstudie

Kinder mit schulischen Leistungsproblemen oder Verhaltensauffälligkeiten werden häufig als ADHS-Kinder bezeichnet. Das Aufmerksamkeitsdefizit und Hyperaktivitätssyndrom ist die deutsche Bezeichnung für die aus dem angelsächsischen Sprach- und Forschungsraum stammende Kategorisierung als Attention Deficit and Hyperactivity Disorder (ADHD).

Die Kernsymptomatik von ADHS hat 3 Säulen:
erhöhter Bewegungsdrang
erhöhte Ablenkbarkeit / verkürzte Aufmerksamkeitsspanne
erhöhte ImpulsivitätLibelle

Früher wurden solche eher schwer erziehbare Kinder im deutschen Sprachraum oft als Zappelphillipp oder Hans-guck-in-die-Luft bezeichnet.
Diese Kinder haben ein deutlich erhöhtes Risiko für Schulabbruch, Drogenkonsum, Delinquenz und für die Entwicklung weiterer psychischer Störungen im Erwachsenenalter.
Andererseits können solche Kinder durch ihre hohe Spontaneität und durch ihren grossen Explorationsdrang besondere Fähigkeiten ausbilden, wenn sie lernen die funktionellen Einschränkungen zu kompensieren.

Erkannt  wird ADHS meistens nach dem Schuleintritt, weil die Kinder häufig den Unterricht stören.

Während der Pubertät ergibt sich in vielen Fällen eine Linderung der Symptomatik, wobei vor allem der erhöhte Bewegungsdrang nachlassen kann. Das Outcome hängt davon ab, wie gut diese Kinder lernen mit ihren Besonderheiten umzugehen.

In einigen Fällen bleiben jedoch ausgeprägte Symptome bis ins Erwachsenenalter bestehen, vor allem wenn im Kindesalter keine ausreichende therapeutische Unterstützung zur Bewältigung der Problematik erfolgte.

In den USA wird ADHS nach den Kriterien des DSM IV drei bis viermal so häufig wie in Europa diagnostiziert und dort wird im Gegensatz zur WHO-Klassifikation nach ICD 10, welche im deutschen Gesundheitssystem zur Anwendung kommt, der Subtyp ADS, welcher den nicht besonders hyperaktiven, sogenannten “Träumerchen”entspricht, unterschieden.

Die von den USA ausgehende Begriffsbestimmung des ADHS war immer von Interessen der pharmazeutischen Industrie beeinflusst. So besteht eine Tendenz den Personenkreis, welchem die Kategorie ADHS zugeordnet wird, beständig auszuweiten. Ausserdem wird versucht durch gezielte Information von Pädagogen und Eltern eine erhöhte Akzeptanz der Diagnosestellung zu erzielen.

Bei den meisten ADHS-Fällen wird durch die Gabe des Medikaments Methylphenidat (Ritalin, Medikinet, Concerta, Equasym) ein deutlicher Symptomwandel mit besserer Steuerbarkeit des Kindes erreicht.

Die anfangs sehr deutlichen Effekte erschöpfen sich aber meist nach einiger Zeit. Um nachteilige Effekte in Grenzen zu halten erfolgt die Medikation mit Methylphenidat in der Regel nur über einen befristeten Zeitraum von maximal einigen Jahren.Gras Insekt

Anhaltende Erfolge werden bei schweren Fällen vor allem dann erzielt, wenn die pharmakologische Wirkung dazu genutzt wird im Rahmen eines umfassenden Therapieprogramms verbessert auf die Problematik Einfluss nehmen zu können um dadurch Lernerfolge und Einstellungsveränderungen zu bewirken.

Bei leichteren Bildern von ADHS mit geringen funktionalen Einschränkungen empfiehlt es sich ein spezialisiertes psychotherapeutisches Behandlungsprogramm, mit der Zielstellung eine Notwendigkeit zur Medikation zu vemeiden, durchzuführen.
Häufig weisen ADHS-Kinder sensomotorische Entwicklungdefizite oder Fehlkompensationen bei Resten von Entwicklungsstörungen auf, welche zusätzlich funktionstherapeutisch behandelt werden sollten (Ergo, Logo, Physio, Neurophysiologische Übungen).

Wenn eine deutliche durchgängige Hyperaktivität auch schon im Vorschulalter als Besonderheit beobachtet wurde handelt es sich wahrscheinlich um ein Störungsbild mit überwiegend organischen Ursachen, welches am ehesten im Rahmen perinataler Komplikationen erworben wird.
Typischerweise sind die auditiven und optischen Speicherfunktionen unterentwickelt, wodurch der Aufmerksamkeitsfaden schneller verloren geht, was oft auch mit Defiziten in der Handlungsplanung einhergeht.
Es gibt aber auch ADHS-Kinder mit guten Speicherleistungen, bei denen häufig statt dessen eine besondere Reizoffenheit im Vordergrund steht, welche oft auch schon im Säuglingsalter vorhanden war (Schreibabys). Diesen Kindern fällt es schwer Ablenkungsquellen auszublenden und bei einer Aufgabe zu bleiben.
Durch emotionale Belastungen können ADHS-Symptome imitiert werden. So ist Nervosität auch auch oft mit erhöhtem Bewegungsdrang verbunden und Anspannung kann zu Konzentrationsstörungen und gereizt-impulsivem Verhalten führen.  In diesen Fällen erweist sich eine Medikation mit Methylphenidat oft als unwirksam oder gar schädlich. Eine psychotherapeutische Behandlung sollte dann andere Schwerpunkte setzen als bei klassisch hyperaktiven Patienten.

Die Kategorie ADHS umfasst also unterschiedliche funktionelle Defizite in der Hirnentwicklung welche in Wechselwirkung mit sich verändernden gesellschaftlichen Anforderungen zu sich ähnelnden Störungsbildern führen.der grosse Fang

In fMRT-Untersuchungen sind kortikale, insbesondere präfrontale Minderaktivierungen und ein statt dessen stärker diffus auf den gesamten Kortex verteiltes Aktivitätsmuster als Entsprechung der Verhaltensauffälligkeiten erkennbar. Die veränderten Speicherfunktionen können hingegen besser testpsychologisch erfasst werden.
Um die Problematik positiv beeinflussen zu können ist es dringend erforderlich zuvor eine differenzierte fachärztliche Diagnostik bei einem erfahrenen Kinderpsychiater durchzuführen.
Ungünstig kann es zum Einen sein die Probleme nicht ernst genug zu nehmen und als absichtliches “Nicht-Hören-Wollen” abzutun oder aber zum Anderen auch wenn zu sehr der schulische Leistungsgedanke in den Vordergrund gestellt wird.
Um den “Stempel” ADHS zu vermeiden bietet es sich an bei leichteren Fällen vorrangig von Aufmerksamkeitsstörungen zu sprechen. Um in Deutschland das Betäubungsmittel Methylphenidat verschreiben zu dürfen ist normalerweise eine diagnostische Einordnung als “Einfache Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätsstörung” oder als “Hyperkinetische Störung des Sozialverhaltens” erforderlich, was der Einstufung als ADHS-Kind entspricht.

Peter Dirscherl, Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie